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Koan: Eine Frage von Leben und Tod

In unserer Zen-Tradition ist stilles Sitzen (shikantaza) oft mit Koan-Arbeit verbunden. Koans nehmen das Fragen und Suchen des Herz-Geistes auf. Bei der Suche geht es um weniger um Wohlbefinden, sondern um  grundlegende Fragen des Daseins: Was ist der Sinn meines Lebens? Wohin gehe ich nach dem Tod? Was ist Wirklichkeit? Wer bin ich? Wie finde ich Frieden? Warum gibt es das Böse? Durch beständiges forschendes Fragen öffnet sich der Herz-Geist, und die ganze Welt kann eintreten.

Wer ist es, der all diese Fragen stellt? Nicht so sehr wir fragen, sondern das Leben fragt. Fragen, die unser Herz bewegen, werden zum Brennpunkt unserer Aufmerksamkeit, sie sind der Motor für Zazen und für den spirituellen Weg. Antworten aus Büchern, Schriften oder von Autoritäten sind nur Finger, die zum Mond zeigen, sie erfüllen unser Herz und unseren Geist nicht wirklich. Eine dauerhafte Transformation findet nur in der Begegnung statt, in der Präsenz eines anderen menschlichen Wesens. Fragen, Hören und Sprechen kann nur im Dialog mit anderen Menschen und der Welt stattfinden. Deshalb spielen Zen-MeisterInnen bei der Zen(Koan-)Reise eine entscheidende Rolle.

Meister oder Meisterin sind weniger dazu da, Antworten zu geben oder Gewissheiten zu vermitteln, sondern um unsere Fragen zu provozieren, uns herauszufordern, zu de-struieren und zu re-strukturieren. Sie müssen durch unsere Oberfläche hindurchsehen und bei der Erforschung unseres Herz-Geistes helfen können, der nach Wahrheit und Liebe sucht. Dieser Prozess führt unausweichlich zu Paradoxien, Widersprüchen und Mysterien; denn letztlich kann das Suchen und Sehnen unseres Herz-Geistes sich nur erfüllen, wenn wir uns dem unauslotbaren Abgrund hingeben, dem Unverstehbaren, Unwissbaren, in dem unsere Fragen zum Stillstand kommen. Das Selbst verschwindet in einem Mysterium, in dem wir in Liebe aufgehoben sind, in der Stille der Leere - und der Fülle. Und doch muss es in dem ‚Dazwischen‘ von Beziehungen und Welt immer neu verwirklichen und bestätigen. „Verweile nirgends und lass deinen Geist hervortreten.“

Koan: Eine Frage von Leben und Tod

In unserer Zen-Tradition ist stilles Sitzen (shikantaza) oft mit Koan-Arbeit verbunden. Koans nehmen das Fragen und Suchen des Herz-Geistes auf. Bei der Suche geht es um weniger um Wohlbefinden, sondern um  grundlegende Fragen des Daseins: Was ist der Sinn meines Lebens? Wohin gehe ich nach dem Tod? Was ist Wirklichkeit? Wer bin ich? Wie finde ich Frieden? Warum gibt es das Böse? Durch beständiges forschendes Fragen öffnet sich der Herz-Geist, und die ganze Welt kann eintreten.

Wer ist es, der all diese Fragen stellt? Nicht so sehr wir fragen, sondern das Leben fragt. Fragen, die unser Herz bewegen, werden zum Brennpunkt unserer Aufmerksamkeit, sie sind der Motor für Zazen und für den spirituellen Weg. Antworten aus Büchern, Schriften oder von Autoritäten sind nur Finger, die zum Mond zeigen, sie erfüllen unser Herz und unseren Geist nicht wirklich. Eine dauerhafte Transformation findet nur in der Begegnung statt, in der Präsenz eines anderen menschlichen Wesens. Fragen, Hören und Sprechen kann nur im Dialog mit anderen Menschen und der Welt stattfinden. Deshalb spielen Zen-MeisterInnen bei der Zen(Koan-)Reise eine entscheidende Rolle.

Meister oder Meisterin sind weniger dazu da, Antworten zu geben oder Gewissheiten zu vermitteln, sondern um unsere Fragen zu provozieren, uns herauszufordern, zu de-struieren und zu re-strukturieren. Sie müssen durch unsere Oberfläche hindurchsehen und bei der Erforschung unseres Herz-Geistes helfen können, der nach Wahrheit und Liebe sucht. Dieser Prozess führt unausweichlich zu Paradoxien, Widersprüchen und Mysterien; denn letztlich kann das Suchen und Sehnen unseres Herz-Geistes sich nur erfüllen, wenn wir uns dem unauslotbaren Abgrund hingeben, dem Unverstehbaren, Unwissbaren, in dem unsere Fragen zum Stillstand kommen. Das Selbst verschwindet in einem Mysterium, in dem wir in Liebe aufgehoben sind, in der Stille der Leere - und der Fülle. Und doch muss es in dem ‚Dazwischen‘ von Beziehungen und Welt immer neu verwirklichen und bestätigen. „Verweile nirgends und lass deinen Geist hervortreten.“

Zur Geschichte der Koans

Zen-Koans waren ursprünglich Lebensfragen. Suchen und Fragen sind grundlegend für jeden authentischen spirituellen Weg, doch Zen verfeinerte das zu einer großen Kunst. Der ungewohnte, paradoxe, scheinbar unlogische Gebrauch dieser Sprache entwickelte sich zum Zen-Markenzeichen, und alles wurde zur Koan-Sprache, nicht nur Worte allein. Das entsprang der Einsicht, dass Worte die Wirklichkeit niemals erfassen, dass das Unaussprechbare nur hier und jetzt ‚präsentiert‘ werden kann. Die brennende Frage war und ist, wie die Wirklichkeit hier und jetzt realisiert, wie Freiheit und Selbstverwandlung erreicht werden können. Doch mehr und mehr verdinglichten sich die ursprünglich lebendigen und dynamischen Fragen und Antworten und entwickelten sich zu festgelegten Paradigmen für spätere Schüler. Charisma und Kreativität wurden institutionalisiert und immer mehr Koansammlungen, Kommentare zu Koans und Kommentare zu Kommentaren publiziert.

Zur Zeit der Sung-Periode in China (1127-1279) gaben die Meister alte, wohlbekannte Koans. Für viele dieser Koans gab es eine ursprüngliche Lösung, aber man scheint von den Schülern zu jener Zeit nicht erwartet zu haben, dass sie fixierte Antworten geben. Es blieb dem Genius der Japaner vorbehalten, die Koans zu einem Trainingssystem zu systematisieren. Daito (1282-1337) scheint mit solchen Systematisierungen begonnen zu haben, doch es waren Hakuin (1685-1768) und seine Schüler, die Koans samt festgelegter Antworten kodifizierten, arrangierten und in eine Reihenfolge brachten. Hakuin und seine Schüler 'erfanden' gewissermaßen die heutigen Koan-Antworten. Viele davon sind wunderbar, sie passen wie der Deckel auf den Topf, andere wiederum sind eher künstlich und trivial. Deshalb haben nachfolgende Meister stets versucht, die Antworten zu verbessern oder neue Koans zu erfinden.

Systematisiertes Zen = totes Zen?

Das gegenwärtige Rinzai-Koansystem besteht aus zwei Schulen, die sich nicht allzu sehr voneinander unterscheiden: der Takuju- und der Inzan-Schule. Takuju Kosen (1760-1833) und Inzan Ein (1751-1814) waren Schüler von Torei Enji (1721-1792), der ein direkter Schüler und Mitarbeiter Hakuins war. Man sagt, dass es 1.700 Koans gibt, und tatsächlich gibt es unglaublich viele Koans. Auch kann alles und jedes in ein Koan verwandelt werden. Die 'Großen' Koans jedoch entspringen den unlösbaren Paradoxien und zentralen Fragen des Lebens.

Die Systematisierung des Koan-Trainings belebte das Rinazi-Zen, zerstörte aber auch die ursprüngliche Originalität und Kreativität der Koans. Heute durchlaufen Rinzai-Mönche Hunderte und Aberhunderte festgelegter Koans mit vorgegebenen Antworten, in einem Training in erlernter Kreativität und ritueller Routine, mit einer bestimmten Sprache und einem festgelegten Verhalten. Es ist ein einstudiertes Ausagieren, eine Imitation ohne wirkliche Realisierung. „Richtige“ Koan-Antworten sind im Rinzai-Zen zu einem Dogma geworden, ähnlich wie „richtiges“ Benehmen und Rituale im Soto-Zen. Oft heißt es, jemand habe Satori erreicht, wenn er oder sie das erste Koan durchbricht, aber das ist ein Euphemismus. Wohl kaum ein Rinzai-Mönch kommt zur Erleuchtung, indem er Koans ‚besteht‘. Man kann Hunderte von Koans durchlaufen und richtige Antworten geben, ohne eine Erfahrung des Erwachens zu haben. Natürlich gibt es immer Ausnahmen.

Das Koan-Training ist dennoch nicht ohne Wert. Es kann ein Training sein, um die Zen-Sprache zu erwerben, um zu lernen, sich innerhalb von einstudierter Spontaneität und erlerntem Verhalten loszulassen, und es kann für das Erwachen vorbereiten. Das Koan-Training nach dem Erwachen kann ein vertiefender, reinigender und klärender Prozess sein. Wirklich lebendig und lebensspendend wird es jedoch nur dann, wenn man bereits sucht und kämpft. Wenn es allerdings keinen Raum gibt, um den Fragen des Herzens nachzugehen, keinen Platz für kreatives Forschen, Fragen und für Dialog, kann der Geist nicht blühen und gedeihen. Dies ist dem institutionalisierten japanischen Zen passiert, in dem man oft ein autoritäres, auf Institutionen und fixiertes Verhalten, manchmal auch eine nahezu sadistische Härte vorfindet.

Soto-Zen und Koan-Zen

Das Soto-Zen im modernen Japan ist auf shikantaza ausgerichtet, gegenstandslose Meditation; die Koan-Arbeit wird abgewertet. In der frühen Geschichte von Soto und Rinzai waren beide Richtungen noch nicht klar voneinander getrennt. Soto-Meister benutzen auch Koans, und Rinzai- wie Soto-Mönche studierten Koans in den Tempeln der jeweils anderen Richtung. Es scheint, dass sich seit der Zeit des Soto-Patriarchen Menzan (1683-1769) eine Abneigung gegen den Gebrauch von Koans im Soto-zen festgesetzt hat. Einige Meister wie Harada Sogaku Daiun (1870-1961) und seine Schüler Yasutani Hakuun in Japan (1885-1973) sowie Taizan Meazumi mit seiner USA-Schule sind zur Koan-Praxis zurückgekehrt. Harada Sogaku und Maezumi übten beide mit Rinzai-Meistern.

Die Anwendung von Koans im frühen Soto scheint sich vom Rinzai zu unterscheiden. Neben dem regulären Koan-Training (monsan) nutzen Soto-Meister Koan-Sprache und Koan-Handlungen auch bei geheimen Initiationen (kirigami) sowie bei Ritualen und Begräbniszeremonien.

Hier einige Beispiele für den Gebrauch von Koans im Soto-Zen des mittelalterlichen Japan, die meist nicht-verbale, körperliche Antworten erforderten (häufig antwortete der Lehrer stellvertretend für den Studenten):

  1. Lehrer: "Was ist 'Tozan predigt den Unbelebten den Dharma?'“
    Die (nonverbale) Antwort des Schülers: hustet, sitzt (danach), wartet, sagt nichts.
    Dann: schlägt das Kissen zwei-, dreimal.

  2. Lehrer: „Das ist noch zu schwach.“
    Die (nonverbale) Antwort des Schülers: mit den Fäusten schlägt er auf die Strohmatte.
    „Dies ist die Lehre (San) des Toku (Horyu).“

  3. Lehrer: „Wie sitzt jemand auf einer hundert Fuß hohen Stange?“
    Stellvertretende Antwort: „Sitzen in (völligem) Vergessen.“

  4. Frage: „Wie kann (jemandes) Körper in allen Richtungen erscheinen?“
    Stellvertretende Antwort: „Hinaufhüpfen, hinunterfallen.“

  5. Frage: „Ein Vers?“
    „Shinjin datsuraku, datsuraku shinjin.“
    (Geist und Körper loslassen, losgelassener Körper und Geist)

Koans im Soto-Zen scheinen mehr zur Lehre und Erklärung gedient zu haben, denn es mangelt ihnen die aktive Herausforderung und Dynamik der Rinzai-Methode.

Ein anderes Beispiel:

  1. Lehrer: „Die Bewertung eines Räuchergefäßes (sandame)?“
    Die (nonverbale) Antwort des Schülers: zeigt auf seinen eigenen Körper.

    Lehrer: „Und für brennenden Weihrauch?“
    Antwort: „Einatmen und Ausatmen“.

    Lehrer: „Ein Vers?“
    „Während ein Bündel Räucherstäbchen brennt, fasse den Geist.“

Zen: einmal oder zweimal geboren?

Heutzutage wirkt es, als seien Soto und Rinzai gegensätzlich. Es kursieren verbreitete Vorstellungen wie etwa: „Rinzai ist Krieger-Zen“, „Soto ist Bauern-Zen“. In der Tat besteht Rinzai-Zen aus Fragen und Zweifeln, es ist auch ein Ringen, ein Kampf. Typisch dafür ist Hakuins Rinzai-Anweisung: „Zu allen Zeiten kämpfe in deiner Übung des Zen gegen Täuschungen und weltliche Gedanken, zieh zu Felde gegen den schwarzen Dämon des Schlafs, verwerfe aktive und passive Gedanken, Ordnung und Unordnung, Richtig und Falsch, Hass und Liebe und verschreibe dich dem Kampf gegen alle weltlichen Dinge. Dann, wenn du mit wahrer Meditation vorwärts kommst und heftig kämpfst, wirst du unerwartet auf wahre Erleuchtung stoßen.“

Auf der anderen Seite schreibt Soto-Meister Dogen: „Der Weg ist in hohem Maße perfekt und existiert überall. Weder ist der Weg zu suchen noch zu realisieren. Die Wahrheit, die uns weiterträgt, ist souverän und braucht unsere Anstrengungen nicht… Im Wesentlichen ist die Wahrheit dir sehr nahe. Ist es daher notwendig, auf der Suche nach ihr umher zur rennen?“

Letztlich bestimmen Psychologie und Temperament der Übenden die Unterschiedlichkeit des Zen. In „Zen für einmal und für zweimal Geborene“ bezieht sich Conrad Hyers auf den berühmten Psychologen William James, der zwischen „einmal Geborenen“ und „zweimal Geborenen“ unterscheidet, um verschiedene Geisteshaltungen der Menschen zu erklären. Einmal Geborene wachsen in heiterer Grundstimmung auf, sie sind von Natur aus gutmütig, optimistisch und voller Weltakzeptanz. Die Persönlichkeit der zweimal Geborenen (wiedergeboren aus dem Geist) ist dagegen geprägt von Schuld, Angst, Schrecken, Verzweiflung und Melancholie. Sie sind rastlose Sucher, daher sind für sie Konversionen und Durchbrüche, also „zweimal geboren werden“, charakteristische Formen der Befreiung. Hyers glaubt, dass erstere zum Soto-Zen tendieren, letztere dagegen eher zum Rinzai-Zen. Er hält den sanften Weg des Soto-Shikantaza für ebenso wichtig wie die Rinzai-Methode mit Koan und Kensho und tendiert sogar dazu, den Soto-Weg für überlegen zu halten. In seinem Buch stellt er das Beispiel eines Menschen vor, der Bücher über Rinzai-Zen liest, zum Zen kommt und geradezu süchtig wird nach manisch-depressiven Stimmungswechseln, Traumata und apokalyptischen Erfahrungen. Schließlich gelangt er zum Soto-Zen und erkennt die Nutzlosigkeit aller Dramatik. Er lässt sich nun in Frieden nieder und nimmt sich selbst an: „Der Lotus erhebt sich aus der Tiefe des Teichs, die Blüte entfaltet sich ins Licht.“

Dramatische Spiele und ‚kranke Seele‘

Ich stimme mit Hyers Kritik in vielem überein. Es ist richtig, dass der moderne Rinzai-Ansatz das Koan-Training zum ideologischen Werkzeug einer feudalen, patriarchalen Zen-Gesellschaft gemacht hat, und das Gerede über den Großen Zweifel, den Großen Tod, den Großen Durchbruch, all die Dramatik und die Geschichten über besondere Erfahrungen usw. nähren eher die Egotrips der Schüler/-innen. Das kann zu Aufstiegsphantasien, Erfolgszwang, Illusionen und manisch-depressiven Zyklen führen. Hakuin hat dafür in gewisser Weise die Bühne bereitet, als er sagte: „Ich habe 18 große Erleuchtungen gehabt, und meine kleinen Erleuchtungen sind zahllos.“ Iida Toin Roshi kommentiert ironisch, die ersten 17 Erleuchtungen Hakuins seien dann wohl Fälschungen gewesen...

Doch die Absicht und der Impuls von Hakuins Koan-Zen sind durchaus solide und wesentlich für die menschliche Reise. Hyers übersieht, wie wichtig Fragen und Suchen sowie das Bedürfnis nach Verstehen und Realisierung im menschlichen Leben ist. Wer von uns ist nicht von den Fragen des Lebens ergriffen, vom Woher und Wohin, dem Geheimnis der Weltalls, Fragen nach dem Sinn von Leiden und Übel? Wir alle müssen den Koans des eigenen Lebens gegenübertreten und mit ihnen ringen, so wie Jakob, der die ganze Nacht hindurch mit seinem Engel gerungen hat. Das traditionelle Koan gibt einen Anhaltspunkt für die Suche und den Kampf. Natürlich variieren psychische Höhen und Tiefen von Person zu Person. Der Lehrer oder die Lehrerin sollten Zurückhaltung und Vorsicht üben gegenüber der Dramatik und den Geschichten von 'Durchbrüchen'. Das Ziel ist nicht eine bestimmte Erfahrung, eine esoterische Illumination, sondern eine authentische Realisierung, die zur Umwandlung des ganzen Lebens und Seins führt.

Der Weg der Koan-Praxis

„Was ist dein ursprüngliches Gesicht, bevor du geboren wurdest?“
Antwort: Schüler/in legt beide Hände auf die Brust und steht auf.

'Dein ursprüngliches Gesicht/Selbst' ist ein sehr bekanntes Koan. Es stellt die grundlegende Frage: Wer bist du wirklich und letztendlich? Bist du nur deine Geschichte, dein sozialer Status, deine körperliche Form, oder bist du mehr als das? Oder bist du nur deine Beziehungen, deine Lieben, deine Freundschaften, deine Familie? Wer bist für die Welt, für die Anderen und für dich selbst? Nangaku Ejo (677-744) kam, um den Sechsten Patriarchen Eno (637-713) zu besuchen, und Eno fragte ihn: „Wer ist das, der so kommt?“ Nach acht Jahren der Suche und des Kampfes kam Nangaku zum Erwachen und gab zur Antwort: „Was immer ich sage, was ich bin, wird den Punkt verfehlen – das genau ist das wirkliche ‚Ich‘.“

Die Person/das Selbst kann nicht in Begriffen oder Bildern eingefangen werden. Es ist nicht-eins, es ist nicht-zwei, es ist nicht nicht-dual, es ist nicht gleich, es ist nicht unterschiedlich, weder das Gleiche in Verschiedenheit noch Verschiedenheit in der Gleichheit. „Was? Wer? Wie? Woher?“, solche Fragen verweisen immer auf die ultimative Wahrheit der So-heit. Dogen schrieb: „Das ‚Was‘ ist kein Fragewort, sondern das ‚Kommen der So-heit‘.“ Damit verweist er auf das Unausdrückbare und drückt das Nicht-Wissbare, das Nicht-Benennbare durch Äußerungen aus, die weder etwas erklären noch behaupten. Die Fragen reißen dich aus deiner fixierten Weltsicht heraus und fordern dich auf, dich nicht in Ideen, Meinungen oder Behauptungen zu verstricken, sondern das formlose Selbst zu realisieren, dein ursprüngliches Gesicht. Und doch ist das formlose Selbst nichts anderes als die Form gerade dieses Selbst, hier und jetzt.

Im Mittelpunkt des Erwachens steht die Realisierung der Leere. Es ist ein Erwachen zur Wirklichkeit des Unerfassbaren, des Mysteriums von Selbst und Wirklichkeit. Doch zunächst erwacht man zu sich selbst als leer und eins mit der ganzen Welt. Das ist Rinzais „Person ohne Rang“. Doch, wie Dogen sagen würde, hält sich alles und jedes in seiner eigenen Dharma-Position auf, und nichts und niemand kann behaupten, „ohne Rang“ zu sein. „Kein Ort“ und „kein Rang“ bedeutet, dass man nicht an Begriffswelten kleben sollte. Und man realisiert dieses „kein Rang“ nur dadurch, dass man sich in einer konkreten Beziehung und Situation loslässt. Das formlose Selbst aktualisiert und präsentiert sich selbst im Handeln und Sich-Beziehen. Form ist Leere, Leere ist Form. Das ist es, was in Zen-Wortwechseln und im Zen-Dialog geschieht, im Samadhi der selbst-bewahrheitenden Aktivitä (jijuyu zammai) und in vollständigem Einsatz (gujin).

Struktur und Anti-Struktur

Die Theologin Rosemarie Haughton („The Transformation of Man“) beschreibt psychosoziale Dimensionen der spirituellen Wandlung und schlägt dafür die Begriffe  „Formation“ versus „Trans-formation“ vor. Ich halte allerdings die Begriffe von „Struktur“ und Antistruktur“ des Ethnologen Turner, der sich mit Übergangsritualen beschäftigt, für besser geeignet, um den Prozess der Transformation zu verstehen.

„Struktur“, das ist Erziehung, Disziplin, Training, Selbst-Aufbau und –Bejahung, im Zen entspricht das dem Ziel des Samadhi. „Antistruktur“ führt dagegen zu Selbst-Verlust, zur Konversion, zum ‚Sterben‘ und zur Verwandlung. Im Gegensatz zum Aufbau von Struktur "geschieht" Antistruktur plötzlich. Sie ist subversiv, den Grund umwälzend, und zerbricht Struktur, Kontinuität und Wohlbefinden. Antistruktur - das ist das Herz des Koan-Zen: zerbrechen und loslassen, ‚sterben‘ und sich hingeben. Diese Transformation zerbricht Selbstidentität, Institution und Gesetz und bringt sie zum Verschwinden. Man gerät in eine Grenzsituation von „weder-das-eine-noch-das andere“, gewissermaßen ins Nirgendwo. Aus diesem ‚Nichts‘ heraus geschieht Verwandlung als creatio-ex-nihilo. Sie führt zu einer neuen Schöpfung und einem neuen Sein, wobei Formierung und Trans-Formierung, Struktur und Anti-Struktur sich wechselseitig bedingen.

Diese Bewegung von Struktur zu Antistruktur, von Formierung zu Transformierung wird im Koan-Zen im Kontext der Meister/in-Schüler/in-Beziehung realisiert. Der Zen-Austausch ist dialogisch, häufig „performativ“, darstellend, und er geht eher in Richtung Transformation als Formation. Zwar kommen die Schüler/innen zum Meister oder zur Meisterin, um bestätigt zu werden und sich selbst zu bestätigen. Doch der/die Meister/in muss ihnen helfen, solche nutzlosen Anstrengungen zu unterlassen und über Ansprüche, Erwartungen, Kontrollwünsche und Manipulationsversuche hinauszugehen. Der Daseinszweck von Zen-Meistern ist es, Schüler/innen zum Erwachen des ‚formlosen Selbst‘ zu bringen, und das lässt sich nicht einfach weitergeben, keine wie auch immer geartete Anstrengung kann das bewirken.

Und doch sind eigene Bemühungen, langes Warten sowie die Erwartungshaltung von Meisterin oder Meister nicht vergeblich. Wenn es ‚geschieht‘, dann, wie Paul Tillich sagt, als ‚Gnade‘ und Geschenk in Hingabe und Eins-Sein. Dann ist es sowohl eine Freiheit von dir selbst wie auch die Freiheit, du selbst zu sein, in selbstloser und mitfühlender Offenheit. Leider wird dieser Zen-Dialog oft als ein „Kampf“ dargestellt, in dem jede Partei versucht, die Oberhand zu gewinnen, und natürlich behält der Meister immer die Karten in der Hand. Das aber macht die Krankheit zum Heilmittel!

Bestätigung oder Spiel?

Für die Bestätigung ist es wichtig, wie man die eigene Realisierung gegenüber dem Meister oder der Meisterin ausdrückt. Tatsächlich ist diese Präsentation deines Selbst im Dialog bereits Realisierung/Bestätigung. Sie muss allerdings auch im Alltag geprüft und weiter bestätigt werden. Der Kern des Dialogs mit dem Meister oder der Meisterin ist jedoch im Hier und Jetzt. Hier verwirklicht sich die Identität des erwachten Selbst mit dem, wohin und wozu es erwacht ist: zur Nicht-Dualität von Selbst und Welt. Immer wieder muss man sich verlieren, um sich erneut in diesem Verlieren zu finden. Dabei geht es nicht so sehr um das WAS, sondern um das WIE der Präsentation. In diesem WIE drückt sich die Echtheit der Realisierung aus, ebenso das Ausmaß von Freiheit, Spontaneität und Mitgefühl. Eine tiefe Realisierung ist ein freies Fließen von Bestätigung und Verwirklichung. Aber es gilt auch, die Zen-Ausdrucksweise und -Sprache und zu lernen.

Der koreanische Meister Seung Sahn spricht von drei verschiedenen Erleuchtungsantworten. Antwortet man zum Beispiel bei einem vorgezeigten Apfel auf die Frage: „Was ist das?“ mit „Ein Apfel“, so kann das heißen, dass man noch durch den Namen geblendet ist. Sagt man „kein Apfel“, kann das bedeuten, dass man an der Idee der Leerheit klebt. Schlägt man dagegen auf den Boden und schreit “Katsu!”, dann fallen Namen bzw. Nicht-Namen weg und die Leerheit zeigt sich. Das nennt man „Erste Erleuchtung“. Es folgt die “Ursprüngliche Erleuchtung”, die etwa in der Antwort besteht: “Der Himmel ist blau, das Gras ist grün, die Mauer ist weiß, der Apfel ist rot.” Das sind „So ist das“-Antworten, die bedeuten, dass die Dinge sind wie sie sind: „Dreimal drei sind neun.“ Die dritte ist die „endgültige Erleuchtung“: du nimmst den Apfel und beißt hinein. Das ist eine „Genau so“-Antwort.

Das alles kann hilfreich sein, doch es besteht die Gefahr stereotyper Antworten und Handlungen, die Koan und Zen-Dialog zu einer Technik, einem Trick oder zum bloßen Hilfsmittel eines Spiels reduzieren. Es ist wichtig zu wissen, dass auch sogenannte „richtige Antworten“ keineswegs zu einer authentischen Realisierung führen.

Zen-Meister Rinzai spricht von vier Positionen: „Manchmal nimmt er die Person weg, aber nicht die Umgebung. Manchmal nimmt er die Umgebung weg, aber nicht die Person. Manchmal nimmt er beides weg, die Person und die Umgebung. Manchmal nimmt er weder die Person noch die Umgebung weg.“

Bei diesen Positionen geht es um den Prozess des Lehrens, um Wege und Stufen der Erleuchtung und darum, wie jemand den Zen-Weg geht. Ist das Selbst vergessen, tritt man durch die Umgebung ein. Ist die Umgebung vergessen, tritt man durch das Selbst ein. Oder Selbst und Objekte sind vergessen und überschritten. Oder man bewegt sich frei in der So-heit von Selbst und Welt. Die Postionen ähneln Tozans „Fünf Rängen“, die allerdings verfeinerter und detaillierter sind.

Es gibt Ebenen und Stufen der Erleuchtung, und die Koan-Antworten sollten mit diesen Ebenen in Übereinstimmung sein. Eine Antwort muss passen und adäquat sein. Kommt man allerdings zu einer tiefen und authentischen Verwirklichung, wirft man Koans und Koan-Antworten weg und bewegt sich frei zwischen Himmel und Erde.

Koan in einem Traum

“Fragt dich jemand im Traum, warum unser Gründer aus dem Westen kam, wie wirst du antworten? Kannst du das nicht beantworten, dann ist die Wahrheit des Buddhismus für dich sinnlos.“

Antwort: Die Schülerin oder der Schüler, Tiefschlaf vorgaukelnd, schnarcht: „zzz … zzz“.

Oder: Antwortet der/die Schüler/in auf die beschriebene Weise, fragen manche Meister sofort nach: „Denkst du etwa, das wäre eine Antwort?“ Reagiert der Schüler/die Schülerin daraufhin, lässt ihn die Meisterin/der Meister durchfallen. Bleibt er/sie dagegen stumm und stellt sich weiterhin schlafend, kann er/sie passieren.

Die Zen-Redewendung der „Bedeutung von Bodhidharmas Kommen aus dem Westen“ bezieht sich auf die „Essenz des Zen“, die absolute Wirklichkeit. Was ist wohl der Sinn oder die absolute Wirklichkeit, wenn man schläft, und zwar unabhängig von der konkreten Situation, in der man sich befindet? Rinzai sagte einmal, wenn Bodhidharma mit seinem ‚Kommen aus dem Westen‘ einen Sinn verfolgt hätte, hätte er noch nicht einmal sich selbst retten können. Das Absolute ist kein Objekt, das dem konkreten Hier und Jetzt gegenübersteht. Und so, wie du bist, befindest du dich direkt im Zentrum der grenzenlosen Wirklichkeit. Kannst du dich diesem Hier und Jetzt vollständig hingeben und dein Selbst in dieser So-heit präsentieren?

Die Koan-Antwort muss bildhaft sein, aber nicht bloß ausgedacht, um der Koan-Situation zu genügen. Bist du Offenheit und Leere, dann kannst du mithilfe deiner Imagination in alle Bereiche eintreten und alle Möglichkeiten verwirklichen. Das ist nicht nur ein ‚So-tun-als-ob‘. Imagination ist Wirklichkeit, doch weder in Gestalt bloßer Phantasien noch als ‚harte Tatsachen‘. Koans und Koan-Antworten sollte man nicht zu wörtlich nehmen. Verfang dich nicht in sogenannten ‚richtigen‘ Antworten. Gleichzeitig solltest du exakt sein und mit deiner Antwort genau den Punkt treffen. Wie also wirst DU auf dieses Koan antworten?

Befreiung und Double-Bind

 “Ohne deine Hände zu benutzen, lass mich aufstehen.”
Antwort: Der/die Schüler/in steht auf und geht zwei-drei Schritte.

“Ohne den Deckel von der Proviantdose zu nehmen, sag mir, was drin ist.”

Antwort: Der/die Schüler/in gibt vor, den Deckel von der Dose zu nehmen und sagt: „Oh, Reiskuchen, vielen Dank!“

E gibt viele solcher Koans, z.B. „Sprich, ohne deinen Mund zu öffnen“, oder „Geh, während du auf einem Ochsen reitest“. Zunächst einmal befassen sich diese Koans mit unserer sozialpsychologischen Situation, mit double-binds, widersprüchlichen und paradoxen Ge- und Verboten. Seit unserer Kindheit sind wir oft in widersprüchlichen, oft unausgesprochenen, ungeprüften und unprüfbaren Befehlen und Urteilen gefangen. Der Kern des double-binds liegt in der Gegensätzlichkeit von Botschaft und Kontext. Zum Beispiel: „Mutti hat dich nicht bestraft, weil Mutti böse ist, sondern weil du böse warst. Mutti schlägt dich, weil sie es gut mit dir meint.“ Was ist der Kontext: liebende Fürsorge oder Hass? Double-binds erzeugen krankhafte Überzeugungen und Gefühle in uns, weil sie uns in eine Situation einsperren, in der wir auf jeden Fall verlieren. Bekannt ist auch: „Sei ganz spontan!“ oder „Liebe mich freiwillig!“ oder „Sei ganz du selbst!“. Versucht man, solchen Aufforderungen zu folgen, verliert man sich selbst; folgt man nicht, verliert man ebenfalls. Viele von uns sind in solchen irrationalen und undurchführbaren Ansprüchen und Überzeugungen gefangen. Entweder resignieren wir und bleiben passiv, oder wir schlagen mit dem Kopf an die Wand, bis wir zusammenbrechen. Oder wir wehren uns, werden zornig und zu Rebellen, die einfach alles ablehnen.

Das Koan fordert uns auf, frei aus dieser Falle herauszugehen – so wie Isan aus der Falle, die ihm Hyakujo gestellt hat, oder Joshu aus Nansens Falle. Sicher sind Koans keine wirklichen double-binds, doch sie schaffen ein Pseudo-Dilemma und stellen die Schüler vor illusionäre Alternativen. Die Antwort darf nicht zurückweisend und negativ sein (das wäre nur eine Bestätigung der Falle), sondern kreativ und frei, indem sie den üblen Geist des Kontextes im Hegel'schen Sinne ‚aufhebt‘ und in eine befreiende, neue Geburt überführt.

Die tiefere Dimension des Koans ist die sogenannte ‚Wesentliche Welt‘, die Realisierung, dass „von Anfang an überhaupt nichts“ ist. Wie das Herz-Sutra sagt, gibt es in der Leere keine Form, kein Fühlen, kein Denken usw. Alle Skandhas sind leer, Form ist Leerheit. Doch dieses „Von Anbeginn an ist überhaupt nichts“ kann nur durch „Leere ist Form“ verwirklicht werden. Häng dich nicht an die Idee der Leere. Wenn du in Form eintrittst, realisierst du Leere.

Wissen und Sein

 “Dreh den Schalter des Himmels und lass die Erdachse sich drehen.”
Antwort: Der/die Schüler/in schlägt einen Purzelbaum vor dem Meister/der Meisterin.

“Wie alt ist der Amidha Budda?”
Antwort: “So alt wie ich.”

“Lass den Berg Fuji drei Schritte tun.”
Antwort: Der/die Schüler/in steht auf und macht drei Schritte.

Die Antworten verweisen auf die Realisierung, dass das leere Selbst der Berg, die Flüsse und die ganze Erde ist, auf ein Wissen, in dem die zwei eins werden. Im Wissen um die Einheit des Selbst mit dem Anderen liegt wahres Wissen. Das ist weder eine Ego-Aufblähung noch ein Konzept oder Gefühl. Dieses Selbst ist ein Nicht-Selbst, ein leeres Selbst. Manche denken, wenn sie im ‚tiefen Samadhi‘ sind und einen Namen hören oder ein Bild sehen, dass sie zu diesem Namen oder Bild werden, dass das die Art ist, wie man Koans beantworten sollte. Koan-Training bewegt sich zwar im Feld von Samadhi, doch Samadhi allein ist nicht Realisierung. Wäre dem so, dann würde man die Realisierung zu einem bestimmten Geisteszustand reduzieren. Realisierung existiert vor allen besonderen Bedingungen und Zuständen als Grundlage für alles. Das Koan-Training kann dazu beitragen, unsere Empfindungen und Emotionen, unser Denken und Verhalten in diesem Sinne neu zu formen und in neue Bilder zu fassen.

Koans sind Symbole, vielschichtig, vieldeutig und offen für endlose Möglichkeiten und Tiefen. Man sollte sie weder wörtlich nehmen noch als bloße Probleme sehen, die man lösen oder überwinden könnte. Alle traditionellen Koans (kosoku koan) laufen letztlich auf das ‚Große‘ Koan hinaus, das sich in unserem Leben realisiert (genjo koan). Das ganze Leben ist dein Koan, DU bist das Koan.

Der Religionswissenschaftler Hee-Jin Kim schreibt zu Dogens Auffassung von Koans: „Für Dogen, indem es den Verstand kritisiert, funktioniert das Koan nicht nur als Un-Sinn oder Gegen-Sinn, sondern als Parabel, Allegorie und Mysterium, durch das hindurch sich der Horizont der Existenz entfaltet. Nach diesem Verständnis ist es nicht zu lösen, sondern nur zu verwirklichen.“


(Leicht gekürzter, bearbeiteter bzw. nachübersetzter Text, Quelle: Arul M. Arokiasamy (AMA Samy): Warum Bodhidharma in den Westen kam, Falk-Verlag, Seeon 1995, S. 63 ff., Übersetzung: Helga Braun 2016)